Eine Biografie von Subjekt, Gemeinschaft & Gesellschaft by Petroschek Wulgarow // Young Boy Dancing Group @ Tropez // 27.07.2019 // Performance & Public Intervention // DE
Der Wulgarow war mal wieder nicht amüsiert, als er in das Sommerbad Humboldthain in Berlin ging, um eine Performance zu sehen. Es war Eintritt zu entrichten, wie das für Freibäder so üblich ist. Bis auf ein Schild am Eingang mit Titel und Zeit der Veranstaltung gab es allerdings nicht viele Informationen und Gäste, die offensichtlich für das Kunstevent gekommen waren, irrten über die Pfade des Freibads.

Erstmal etwas maulen
Ich beobachtete eine Stunde lang wie etwas verpeilt wirkende Männer Kabeltrommeln über die Wiese bugsierten, ausrollten, wieder einrollten, wieder zurückbewegten, neue Kabel und Verteiler holten und dann irgendwann eine Anlage aufstellten, neben der sich eine Violinistin niedersetzte, um ein paar Soundkulissen zu malen. Das war noch nicht die Performance. Ein Absperrband war um Bäume gespannt, die einen großen Bereich einschlossen und es tat mir im Herzen weh zu sehen, wie rabiat das Band entfernt wurde und dabei etwas Rinde der armen, hitzegeplagten Bäume abplatzte.

Schlechte Kommunikation, organisatorische Engpässe und das Publikum verwirrt warten lassen: Alle guten Elemente einer Indie-Kunstveranstaltung waren also schon vorhanden. Eine Stunde nach dem angekündigten Termin eilte dann die beträchtlich große Masse an Menschen, bestimmt mehr als 100 Personen, zu einem anderen Ort auf der Wiese, an dem die Performance sich mit Klängen und Sounds ankündigte.
Die drei Bewegungen
Die Young Boy Dancing Group muss man sich als ein Kollektiv von Performer*innen vorstellen, die auf den ersten Blick wie die neueste Iteration der Berlin Fashion Week wirken. Allerdings trügt diese Oberflächlichkeit, denn die merkwürdige Kleidung, die sie tragen, ist keine. Es ist Unkleidung: Schuhe mit massiven Sohlen, halb aufgeschnitten oder löchrig, Zehen gucken hier und da raus, Hosen die zerrissen sind, oder einfach nur Schlüpfer und Strings, darüber verhüllend-enthüllend dysfunktionale Überhosen, seltsame Mäntel, zu kleine oder zu große Oberteile – es muss eine Qual sein, sich darin zu bewegen. Diese Kleidung erfüllt also keinen üblichen Zweck. Zwar sind die Performenden bekleidet, aber eben auch halb nackt, zwar wirken sie lasziv und erotisch, hip und relaxed, zum anderen behindern die Kleidungsfetzen bei ihren Bewegungen, entblößen unbeholfen, bieten keinen Schutz, keinen Komfort.
Die Gruppe, bestehend aus sieben (ich hoffe, ich habe richtig gezählt) Performenden, macht ihren Eintritt indem sie über den Boden krabbeln, rollen, sich werfen und zerren und tragen, und dabei eine komplette PA-Anlage, also mehrere Lautsprecher, eine Endstufe, ein Mischpult und den gesamten dazugehörigen Kabelsalat in Richtung der Violinistin bewegen. Dabei nehmen sie verschiedene körperliche Konstellationen ein, kuscheln mit den Lautsprechern, helfen sich gegenseitig, bringen perkussive Elemente ein, balancieren aufeinander und den Objekten, sind dabei extrem fürsorglich und vorsichtig mit dem Wust an Kabeln und Geräten, den sie mit sich führen.

Es ist der Beginn, ein Eingang in eine einstündige Performance, die körperlich und psychologisch nicht nur die Performenden an ihre Grenzen treiben wird. Alles zu beschreiben, was da geschah, wird vergeblich bleiben. In der Performance identifizierte ich vor allem drei Bewegungen, die immer wieder skulpturale Installationen im Raum schufen.
Die erste Bewegung ist die Gruppenbewegung, in der sich die sieben Performenden zusammenwerfen, übereinander stapeln, aufeinander steigen, durcheinander steigen, mit einander balancieren, rabiat mit den Stiefelprofilen aufeinander treten, gegeneinander lehnen und die verletzlichen Teile ihrer Körper immer wieder sichtbar machen, sich in sadomasochistischen Gesten Hände in die Münder stecken und an den Füßen ihrer Mitspieler lecken. Bereits hier schmerzt es zuzusehen, denn im Gegensatz zu einem Ballett oder einer Bühnenshow wird hier nicht versteckt, wie sich die Performenden Schürfungen holen, wie blaue Flecken entstehen, wie sie den Schmerz wegatmen müssen. In einer zweiten Bewegung zerfällt die Gruppe dann in Paar- oder Triokonstellationen, die wieder rabiate und intime Momente und Gesten gegeneinandersetzen, und bei denen sich die Akteure ineinander werfen oder zusammen auf den Boden sinken, verschlungen und sich bergend. In der dritten Bewegung verlassen Performende die Gruppe vollständig, rennen davon, kollidieren mit dem Publikum und bleiben doch dabei still und rastlos, man kann durch die Soundwand der Violinistin, die das Ganze bedrohlich, repetitiv und unmelodisch untermalt, nur das Schniefen und Keuchen und Atmen hören.
Kulissenwechsel
Die Kulisse wechselt von der PA-Anlage, die nun neben der Violinistin positioniert ist, zu einem Bereich, der über zwei laufende Rasensprenger definiert wird. Die Young Boy Dancing Group begibt sich in diesen Bereich und Wasser schießt zunächst ins Publikum und über ihre eigenen Körper. Das verstärkt den Eindruck der Verletzlichkeit ihrer Körper, die ohnehin schwitzige und heiße Haut quillt unter dem Wasser auf, die Performenden befinden sich im Konflikt aber auch in erotischen Auseinandersetzungen miteinander: Das Motiv der Nässe wird in seiner ganzen Ambivalenz genutzt. Die meiste Zeit über dampft eine Nebelmaschine ihren Dunst über die Szenerie – in Effekt tritt dieser Nebel aber erst, als die unter dem Regen der Rasensprenger sich verschlingenden Performenden nach einer kurzen Phase der Ruhe mit einem Mal auseinander stäuben und durch und um die Mengen der zuschauenden Menschen laufen. Die Szene beginnt durch den Nebel, die Nässe und die zerschlissenen und geplagten Darsteller wie ein Alptraum zu wirken, wie eine Szene aus den Schützengräben des ersten Weltkriegs; Menschen die in einer Katastrophe fliehen und um ihr Leben rennen, auf der Suche nach Schutz, Nähe und Vertrautem.

Worum es ging
Diese Szene eröffnete sich mir als Schlüssel zum Verständnis der gesamten Performance, denn von dort an kamen immer deutlichere Motive und lesbare Gesten zum Einsatz: Da gibt es das Schöpfen von Wasser mit Handtaschen, was dann in alle Richtungen geschleudert wird – eine Person im shopping spree. Zu diesem Motiv der Verschwendung und des Überflusses greift dann eine Performerin in eine Mülltonne und schmeißt Pommes in frenetischer Glückseligkeit in die Luft, zermanscht sie auf der nassen Wiese. Da gibt es die Szenen, in denen sich Performende langsam, kaum merklich aus der Gruppe entfernen und zu den Rändern des Schwimmbades, den Zäunen und Bäumen laufen, wo sie dann, fast unbemerkt und vergessen, dem Pulk der Menschen ihre Hintern entgegenstrecken – ihr könnt mich mal! Und da gibt es die Auseinandersetzung mit dem Geflecht der Anlage, wenn die Performer zu ihr zurückkehren. Wenn ein Kabel beim Transport ausklinkt und die Anlage ausfällt, scharen sich die Performenden wie eine Woge aus Fürsorge zusammen, fließen über die Lautsprecher mit Ernsthaftigkeit und Bedacht, überprüfen alle Kabel und drücken die An- und Ausknöpfe und wirken dabei wie Wurzeln einer größeren Pflanze, wie ein Schwarm. Dabei wird die Musik und die Anlage selbst zum Subjekt der Gemeinschaft, dem die Gruppe, wie einem Hingefallenen, aufhilft. Die Mischung von exzessivem Wassergebrauch und dem Spiel mit der elektrischen Anlage schafft eine weitere bedrohliche Situation, die Performenden spielen mit der Gefahr des Stromschlags und damit sprichwörtlich mit dem Feuer.

Zum Schluss, nach einem letzten Wechsel in den nassen Bereich, werden die Gesten lichter, es wird eine Art Flugvehikel gebaut. Alle Performenden sind beteiligt, sie heben ab, steigen in eine höhere Ebene auf, transzendieren. In einem finalen Akt der Harmonie kommt das Kollektiv zusammen und hebt eine der weiblichen Performenden zusammen mit den zwei Rasensprengern, wie eine Statue in die Höhe, die Wasserstrahlen als ihr Glorienschein. Da ist sie, ganz klar das Bild einer Göttin, mit einer Brust freigelegt, emporgehoben von allen, die mit ihr gelitten und geliebt haben.
Die Biografie von Subjekt, Gemeinschaft und Gesellschaft
Auf diese Weise entfaltet sich die gesamte Performance der Young Boy Dancing Group als eine Art Biografie des Subjekts, der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Zu Beginn unbeholfen und an technische Hilfsmittel gebunden, die Musik genießend, leichtfertig kommen sie ins Leben. Sie bilden eine Gemeinschaft, sie organisieren sich um ihre Ressource, die Musik, den Sound, sie formen ein Netzwerk. Dann zerfallen sie in kleinere soziale Einheiten, sie kämpfen, sie lieben, sie leben fernab oder in der Gesellschaft und versuchen in immer neuen Bewegungen herauszufinden, was ihre Position in der Gruppe ist. Am Ende wird gestorben und entflohen, was bleibt, ist ein Denkmal, eine Erinnerung, eine Göttin, getragen von allen, die sie in ihrem Leben berührt hat.
Das Publikum und die öffentliche Intervention
Es muss unmöglich bleiben diese Performance in Gänze zu erfassen, denn sie fand an so vielen Orten statt, zerfaserte, war unzugänglich durch die Massen des Publikums, die sich immer wieder neu positionieren mussten, sich dabei gegenseitig im Sichtfeld standen und im Weg waren. Die träge Masse und Schwarmintelligenz des Publikums war der Gegenpol zu den temporären skulpturalen Szenen, die die Performenden mit ihren Körpern herstellten.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich nicht nur um eine Performance, sondern auch um eine Intervention und Disruption des öffentlichen Raumes handelte. Tropez – der Kunstraum, der das Event ausrichtete – ist in dem Freibad angesiedelt. Die Wiese, auf der die Performance stattfand, wurde auch von nichtsahnenden Badegästen genutzt, die so mit Körperlichkeit und Absurdität konfrontiert wurden. Wie bereits gesagt, war die Performance sowohl körperlich als auch psychologisch fordernd für die Performenden, aber eben auch für die Betrachter. Die Zuschauer, die aus allen sozialen Schichten kamen, hatten dementsprechend verschiedene Arten mit dieser Intervention umzugehen. Eine Gruppe Männer versuchten mit ihrer Art von Humor der Aufführung zu begegnen, da brüllten sie zum Beispiel „Renn schneller“, als die Gruppe auseinander rannte oder forderten die Performenden auf zu ficken („Jetzt fickt!“), als sie nass und sich räkelnd erneut in einer Gruppenkonstellation zusammenfanden. Ich sage das nicht, um die Betreffenden mit moralischem Zeigefinger zu erschlagen, ganz im Gegenteil, ich bewunderte die Hartnäckigkeit dieser Männergruppe, die nach einer Weile sehr still wurde, aber bis zum Ende dabei blieb und im Applaus ihren Respekt zum Ausdruck brachte. Es zeigte, wie schwierig es ist, besonders in maskulin-patriarchischen Konstellationen Körperkontakt und Intimität nicht zu sexualisieren. Andere Badegäste blieben fasziniert, wie vor einem Autounfall, vor dem Spektakel stehen, um dann und wann lautstark zu ihren Freunden zu schreien „Ich verstehe die Scheiße nicht, das ist doch keine Kunst“ und ähnliches. Fotos und Videos wurden natürlich trotzdem geschossen und gesharet – man will seine Empörung ja schließlich teilen.
Ein ganz klassisches, für mich untypisches, Fazit
Das Warten hatte sich also gelohnt und so muss ich auch meinen Respekt bekunden für Tropez, die sich mit dieser Performance nicht nur in der technischen Vorbereitung, sondern eben auch in Anbetracht der Öffentlichkeit viel zugemutet hatten. Was nicht vergessen darf, dass sich die Veranstalter eben auch selbst aussetzen, angreifbar und anfeindbar machen. Eine bessere Kommunikation über zukünftige Veranstaltungen würde natürlich den Zuckerguss auf die Kirsche auf der Sahne auf der Schokoladentorte bringen. Wer sich den Badeeintritt leisten will und sich für Kunst im öffentlichen Raum interessiert, sollte Tropez weiter im Auge, im Hinterkopf und im Eventkalender behalten.
Für Young Boy Dancing Group gilt unbedingt dasselbe. Es ist leider nicht einfach so viel über die Young Boy Dancing Group herauszufinden, ihre sparsame Homepage verrät gerade mal, dass es sie gibt und wie man sie erreicht – auf Facebook haben sie eine etwas aktivere Präsenz, Videos gibt es auf YouTube und Vimeo.
